Nationalsozialismus in Mosbach - Baden
: Rechtsextremismus und Neofaschismus : Anti-Semitismus : Anti-Ziganismus : Homophobie : Rassismus : Diskriminierung 

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NS-Gegenwart

 Zuletzt AKTUALISIERT am 30.04.2023 ! 

Inhalt dieser Kategorie:


Der Nationalsozialismus als Problem der Gegenwart (Beiträge zur Aufarbeitung der NS-Herrschaft 3) 1. Auflage

Kritik an – heute wirksamen – Umdeutungen der despotischen NS-Herrschaft bildet den roten Faden der Untersuchung. Dazu gehört die Verwandlung des Hitlerregimes in einen Rechtsstaat und die Entpolitisierung der beamteten Funktionseliten der Diktatur. Die Auswirkungen der weitgehenden Übernahme des Justizapparats des Dritten Reiches werden sichtbar – wie die vielfache Auflösung des Täterbegriffs für nationalsozialistische Massenverbrechen.



Online-Artikel zur NS-Gegenwart


GESCHICHTSAUFARBEITUNG
Neues Dokuzentrum Zweiter Weltkrieg beschlossen

Fast achtzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs beschließt die Bundesregierung ein Konzept für ein Dokumentationszentrum in Berlin. Es soll die Auswirkungen der Nazi-Zeit in Europa aufarbeiten.
Datum 04.05.2022
Das neue Dokumentationszentrum Zweiter Weltkrieg setzt sich mit den Opfern deutscher Besetzung zwischen 1933-1945 auseinander
Schon vor zwei Jahren hat sich der Bundestag für die Errichtung eines Dokumentationszentrums für alle Opfer des deutschen Vernichtungskrieges und der NS-Besatzungen ausgesprochen. Jetzt billigte die Bundesregierung einen Realisierungsvorschlag von Kulturstaatsministerin Claudia Roth. Der Entwurf für den neuen Lern- und Gedenkort wurde vom Deutschen Historischen Museum entwickelt.
Scholz: "Es ist gut, dass das jetzt und zu diesem Zeitpunkt geschieht"
Das Dokumentationszentrum soll die Dimension der Schreckensherrschaft der Nazis in ganz Europa verdeutlichen. Mit dem Beschluss, einen weiteren Gedenk- und Dokumentationsort in Berlin zu errichten, bringt die Bundesregierung zentrale erinnerungspolitische Vorhaben der vergangenen Wahlperiode voran.
Olaf Scholz gestikuliert vor Schloss Meseberg
Olaf Scholz sprach am Rande der Kabinettsklausur in Meseberg über die Wichtigkeit des Dokumentationszentrums
Bundeskanzler Olaf Scholz teilte am Rande einer Kabinettssitzung in Meseberg mit, dass es gerade mit Blick auf den aktuellen Krieg in der Ukraine wichtig sei, an die historische deutsche Verantwortung, die deutsche Besatzungsherrschaft und die von Deutschen verursachte Zerstörung zu erinnern.
"Wichtiges erinnerungspolitisches Signal"
Kulturstaatsministerin Claudia Roth kommentierte, dass die "Neugestaltung der Erinnerungspolitik" ein "zentrales Vorhaben der Bundesregierung" sei. In dem neuen Konzeptentwurf solle die deutsche Erinnerungspolitik bewusst in einen europäischen Kontext gestellt werden. Es gehe darum zu beleuchten, wie die verheerende NS-Diktatur Krieg, Zerstörung und Vernichtung bis hin zum Menschheitsverbrechen des Holocaust ganz Europa in Mitleidenschaft gezogen hat.
Im Mittelpunkt des Zentrums sollen die Opfer vor allem in Polen, dem Baltikum, der Sowjetunion, Jugoslawien und Griechenland stehen.
Kulturstaatsministerin Claudia Roth steht vor Schloss Meseberg in Brandenburg neben einer Klara Geywitz.
Kulturstaatsministerin Claudia Roth bei der Kabinettsklausur auf Schloss Meseberg in Brandenburg am 4. Mai 2022
Das Dokumentationszentrum hat den Auftrag, zu einem besseren Verständnis der Gegenwart beizutragen. "Dieses Erinnern soll vor allem auch in die Zukunft gerichtet sein und deutlich machen, wie wichtig für das europäische Projekt und für unser Land im Herzen Europas Demokratie, Rechtsstaat und gelebte Vielfalt sind, wie entscheidend unser Engagement in und für Europa ist", führte Roth weiter aus.
Standort noch ungewiss
Über das Konzept muss jetzt noch im  Bundestag abgestimmt werden. Die Frage nach einem geeigneten Standort in Berlin steht auch noch aus.
Das Dokumentationszentrum Zweiter Weltkrieg ist jedenfalls nicht die einzige Erinnerungsstätte, für die derzeit ein Standort gesucht wird. Drei weitere Gedenkstätten sollen in der deutschen Hauptstadt entstehen: für die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft, die polnischen Opfer von Krieg und Nazi-Terror sowie NS-Opfer unter den Zeugen Jehovas.
Ein Auszug aus dem US-Comic Nazi Death Parade zeigt Menschen in Viehwaggons, Nazis mit Gewehren
DAS GRAUEN DER NS-ZEIT IN GRAPHIC NOVELS
Der vermutlich älteste Comic über Nazi-Gräuel
Der niederländische Historiker Kees Ribbens entdeckte bei einem Internet-Händler in den USA den Comic "Nazi Death Parade" aus dem Jahr 1944. Die Zeichnungen zeigen Menschen in Viehwaggons, ihre Ermordung in als Duschen getarnten Gaskammern und die Verbrennung der Leichen in Öfen und beruhen auf Berichten von Augenzeugen. Der Comic war laut Ribbens Teil einer Kampfschrift gegen das NS-Regime.
https://www.dw.com/

Unser Nationalsozialismus: Reden in der deutschen Gegenwart Gebundene Ausgabe – 25. Januar 2023

Unnachahmlich treffsicher nimmt der Historiker Götz Aly den keineswegs immer »vorbildlichen« Umgang der Deutschen mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit in den Blick: Oft ist von »den Tätern« die Rede, wenn es um die NS-Verbrechen geht, von »der SS« oder »den Nationalsozialisten«. Doch es waren Hunderttausende Deutsche, die aktiv Menschheitsverbrechen ungeheuren Ausmaßes begingen, und viele Millionen, die diese billigten, zumindest aber geschehen ließen. Götz Aly setzte sich in seinen Reden der vergangenen Jahre, von denen die wichtigsten in diesem Band versammelt sind, immer wieder mit den vielfältigen Praktiken auseinander, die Schuld auf möglichst kleine Gruppen und Unpersonen abzuschieben. Doch auch wenn sich mancher dagegen sperrt, so zeigt Götz Aly, es bleibt »Unser Nationalsozialismus«. Seine Maxime lautet: Die Vergangenheit nicht »bewältigen«, sondern vergegenwärtigen. So lässt sich daraus lernen. »Götz Aly (hat) uns vor Augen geführt, dass kein deutscher Staatsbürger sich heute davon freisprechen kann, vom Holocaust möglicherweise profitiert zu haben. Es bleibt die Schuld, die von allen beglichen werden muss.« Patrick Bahners zur Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises 2018 an Götz Aly



FRANK-WALTER STEINMEIER
„Die Opfer haben ein Recht auf Erinnerung“

VIDEO
Veröffentlicht am 27.01.2022
Dauer 1 Min
In diesem Jahr jährt sich die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau zum 77. Mal. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus gemahnt, die Erinnerung an die NS-Verbrechen aufrechtzuerhalten.
https://www.welt.de/

HOLOCAUST-GEDENKTAG
Holocaustgedenken: Jeder Name zählt

Die Nazis legten Karteikarten über ihre Opfer an: Die Lichtinstallation #everynamecounts im Herzen Berlins soll am Holocaust-Gedenktag an sie erinnern.
Datum 26.01.2021
Autorin/Autor Christine Lehnen
Die Namen zahlreicher Nazi-Opfer werden an diese Hauswand projiziert - gegen das Vergessen
Fam.-Name: Le Goupil.
Vorname: Paul.
Grösse: 175 cm.
Gestalt: schlank.
Haare: braun.
Augen: grün.
Mund und Ohren normal.
Nase: l. eingebog.
So wird der 21-jährige Lehrer aus Frankreich auf seiner "Häftlings-Personal-Karte" beschrieben, als er im Mai 1944 ins Konzentrationslager Buchenwald eingeliefert wird. Der Begriff "l. eingebog." steht hier vermutlich für "leicht eingebogen". Paul Le Goupils Name ist einer von zehn Millionen, die in den Arolsen Archives im hessischen Städtchen Bad Arolsen aufbewahrt werden, dem größten internationalen Archiv für Opfer und Überlebende des Holocausts. Die Aufgabe des Archivs ist es, Vermisste zu suchen und Schicksale zu klären.
Häftlings-Personal-Karte von Paul Le Goupil
Akribisch füllten die Nazis Häftlings-Personal-Karten aus - so wie die von Paul Le Goupil
Noch heute beantworten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter jährlich Anfragen zu rund 20.000 Verfolgten des NS-Regimes. Im Online-Archiv fragt ein Nutzer namens John zum Beispiel: "Ich suche nach Informationen über Julias Mann, gestorben in Ausschwitz im Jahr 1943." Und eine Frau namens Hedy fragt nach ihrem verstorbenen Vater, Leib Matyas. Das alles ist unter der Archivrubrik "5.3 - Todesmärsche" zu finden.
Keine zwei Monate sind die Anfragen alt. Noch immer suchen viele Nachfahren nach Antworten. Was ist mit ihren Lieben geschehen?
Immer noch sind Juden Opfer von Angriffen
"Es gibt immer weniger Zeitzeugen, die uns berichten können, deshalb müssen ihre Dokumente für sie sprechen", so Floriane Azoulay, Menschenrechtsexpertin und Direktorin der Arolsen Archives. Und noch etwas liegt ihr am Herzen: "Wir müssen mutig sein und kreativ in unseren Methoden, das Gedenken wachzuhalten." Sie will Menschen aller Generationen erreichen, um zu zeigen, wohin Diskriminierung, Rassismus und Antisemitismus führen können.
Floriane Azoulay, Direktorin des Arolsen Archives
Floriane Azoulay kämpft gegen das Vergessen
Das ist auch notwendig, denn immer noch werden jüdische Bürgerinnen und Bürger, Andersgläubige und Andersaussehende beleidigt, verfolgt und angegriffen, auch in Deutschland. Der Anschlag auf die Synagoge in Halle im Oktober 2019 war bloß der medienwirksamste Fall. Ein Attentäter versuchte, sich Zugang zu einer Synagoge in der Stadt Halle in der Nähe von Frankfurt zu verschaffen. Nur eine verstärkte Tür hielt ihn davon ab. Stattdessen erschoss der Attentäter auf offener Straße wahllos eine 40-jährige Frau und einen 20-jährigen Mann.
Eine Aktion gegen das Vergessen
Die Arolsen Archives werden von elf Nationen betrieben, darunter Israel, Deutschland, Frankreich und die USA. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, das Erinnern an den Holocaust wachzuhalten und an jeden einzelnen Namen zu erinnern. Deshalb hat das Archiv die Crowdsourcing-Kampagne #everynamecounts (#JederNameZaehlt) gestartet. Bei der Aktion geht es darum, die Namen auf den digitalisierten Dokumenten des Archivs zu erfassen. Privatleute aus der ganzen Welt können sich anmelden und von Zuhause aus daran mitwirken, dass die Erinnerung an die Opfer des Holocausts erhalten bleibt.
"Wir haben die Aktion #JederNameZaehlt ins Leben gerufen, weil es bei unseren Nutzern eine unheimlich große Nachfrage danach gab", erklärt Floriane Azoulay. "Es ist ein Weg, die Dokumente sprechen zu lassen." Seit Januar 2020 haben sich schon 10.000 Freiwillige registriert und über 2,5 Millionen Dokumente bearbeitet. Sie kommen aus den USA, Deutschland, Australien, Kanada, Polen und vielen anderen Ländern.
"Nicht nur Zahlen und Listen, sondern Namen, Gesichter, Menschen"
Eine Freiwillige namens Mia aus den Vereinigten Staaten sagt, die aktuelle politische Situation in ihrem Heimatland habe sie dazu gebracht, mithelfen zu wollen: "Es fühlt sich gut an, etwas Konkretes für die Opfer des Nationalsozialismus zu tun." Angelika aus Deutschland begründet ihr Engagement damit, dass die Täter nach dem Sturz des Nationalsozialismus vielfach einfach weitermachen durften, während die Namen der Opfer vergessen wurden - wie auch der ihrer Großmutter, die von der SS festgehalten wurde.
Drei Jugendliche sitzen an einem Laptop und schauen sich beim Projekt#EveryNameCounts Namenslisten an
Ursprünglich war das Projekt #everynamecounts nur für Schulen gedacht; mittlerweile machen Menschen jeden Alters mit
Viele Freiwillige berichten, wie wichtig es ihnen ist, dass die Opfer des Holocausts nicht vergessen werden. Eine Frau betont außerdem, dass die Menschen im Konzentrationslager für sie durch die digitale Mitarbeit im Archiv quasi lebendig geworden seien. "Es sind nicht mehr nur Zahlen und Listen, sondern Namen, Gesichter, Menschen."
Das Studieren der Dokumente bringe die Menschen dazu, sich aktiv mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, sagt Floriane Azoulay: "Sie fragen sich: Was wäre wohl mit meiner Familie passiert, wenn wir damals gelebt hätten? Was hätte ich dabei gehabt, wenn man mich in der Schule verhaftet hätte? Hätte ich etwas getan, um meinen Kollegen zu helfen?"
Intensive Auseinandersetzung mit der Geschichte
Diese Identifikation mit den Opfern - "gerade von Menschen, die historisch nicht interessiert oder familiengeschichtlich keinen Bezug zum Holocaust haben" - ist für die Direktorin der Arolsen Archives der größte Gewinn des Projekts. Es wurde erst 2020 ins Leben gerufen - ursprünglich mit Schülern, aber schnell meldeten sich auch andere Helfer. "Es gab Lehrer, die uns erzählten, dass ihre Schüler das Klassenzimmer zur Pause nicht verlassen haben, weil sie noch ein Dokument zu Ende bearbeiten, eine Liste bis zum Schluss erfassen wollten."
Diejenigen, die das Archiv zur Recherche über vermisste Familienmitglieder nutzen, bedanken sich bei den Freiwilligen: "Mein Vater hat nie über die Verwandten gesprochen, die er verloren hat. Selbst einen Namen auf einer Liste zu entdecken, bedeutet uns sehr viel." Eine andere wendet sich direkt an die Freiwilligen: "Wenn es Sie nicht gäbe, hätte ich nichts über meine Familie erfahren. Vielen, vielen Dank."
Auf einer Häfltlings-Personal-Karte ist der Schriftzug #everynamecounts aufgedruckt
Mit ihrer Kampage rufen die Arolsen Archives zum Crowdsourcing auf, um ihre Bestände online zugänglich zu machen
In Vorbereitung auf den Holocaust-Gedenktag am 27. Januar 2021 werden die Arolsen Archives eine Woche lang Namen und Dokumente auf die Außenwand der französischen Botschaft in Berlin projizieren. Die zentrale Lage der Botschaft, heißt es, rücke die Arbeit an dem digitalen Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus mitten ins Herz von Berlin. Die Kunstinstallation wird im Livestream in die ganze Welt übertragen. So soll die Erinnerung lebendig bleiben.
Gedenken an Paul Le Goupil
Auch an den Lehrer Paul Le Goupil: Laut seiner Karteikarte war er zunächst nach Auschwitz verschleppt worden, dann nach Buchenwald. Schließlich kam er ins KZ Langenstein-Zwieberge. Dort musste er Zwangsarbeit leisten. Die Historiker der Arolsen Archives berichten, dass knapp 2000 der 7000 dort eingesetzten Zwangsarbeiter innerhalb weniger Monate an Hunger, Misshandlung und Kälte starben. Am 8. April 1945 räumten die Nationalsozialisten das Lager und schickten etwa 3000 Häftlinge auf Todesmärsche. Die verbliebenen Häftlinge wurden am 11. April 1945 durch US-amerikanische Truppen befreit.
Ob Paul Le Goupil das Lager überlebte, weiß man nicht. Wir wissen nur, dass er ein junger Mann aus Frankreich war, 175 cm groß, mit grünen Augen und einer leicht gebogenen Nase. Im Januar wird auch sein Name die Fassade der französischen Botschaft in Berlin zieren - und man wird sich an ihn erinnern.
https://www.dw.com/de/


Dokumentationszentrum Flucht und Vertreibung
"Erinnerung an vergangenes Leid wachhalten"

Stand: 21.06.2021 18:02 Uhr
Ein neues Dokumentationszentrum in Berlin soll an Zwangsmigration in Geschichte und Gegenwart erinnern. Nach jahrelanger Auseinandersetzung mit europäischen Nachbarn über die Ausrichtung des Zentrums wurde es jetzt eröffnet. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat in Berlin das neue Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung eröffnet.
Das Haus soll künftig als Lern- und Erinnerungsort über das Thema Zwangsmigrationen in Geschichte und Gegenwart aufklären. Ein Schwerpunkt ist dabei Flucht und Vertreibung von rund 14 Millionen Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges. Jahrelange Debatte über Ausrichtung des ZentrumsMit dem Zentrum wird aus Sicht von Merkel "eine Lücke in unserer Geschichtsaufarbeitung" geschlossen. "Über dieses Zentrum wurde lange und intensiv diskutiert in Deutschland, aber auch mit unseren Partnern in Europa", sagte die per Video zu einer Feierstunde zugeschaltete CDU-Politikerin. Umso mehr freue sie das Kommen der Botschafter Polens, Tschechiens und Ungarns.Über Jahre hinweg wurde teils erbittert debattiert, wie stark das Schicksal der deutschen Vertriebenen im Mittelpunkt stehen sollte. Vor allem in Polen gab es Befürchtungen, die Deutschen könnten sich selbst zu Opfern machen und von ihrer Schuld in der Nazi-Zeit ablenken.Merkel erinnert an deutsche Schuld"Um eine gute Zukunft gestalten zu können, müssen wir die Erinnerung an vergangenes Leid wachhalten", sagte Merkel.
Wir haben einen würdigen Ort der Erinnerung an Flucht und Vertreibung gewonnen, der stets bewusst macht: Ohne den von Deutschland im Nationalsozialismus über Europa und die Welt gebrachten Terror, ohne den von Deutschland im Nationalsozialismus begangenen Zivilisationsbruch der Schoah und ohne den von Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieg wäre es nicht dazu gekommen, dass zum Ende des Zweiten Weltkriegs und danach Millionen Deutsche Flucht, Vertreibung und Zwangsumsiedlung erleiden mussten.
Es sei von entscheidender Bedeutung, dass die Vertreibungsgeschichte der Deutschen in ihrem historischen Kontext von Ursache und Folgen eingebettet und nicht isoliert dargestellt wird, sagte Merkel. Dabei erinnerte sie in ihrer live übertragenen Rede auch an den 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 und die Millionen Opfer.Pandemiekonformer FestaktPandemiebedingt nahmen am Eröffnungsfestakt nur wenige Gäste vor Ort teil, darunter neben Botschaftern der frühere Bundespräsident Joachim Gauck, Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) und der Präsident des Bundes der Vertriebenen, Bernd Fabritius. Als Vertreterin der Zeitzeugen-Generation sprach die aus dem Sudentenland geflohene, 92-jährige Christine Rösch.
Wolfgang Schäuble, Monika Grütters, Joachim Gauck, Bernd Fabritius und Gundula Bavendamm
Wegen des Coronavirus nahmen nur wenige Gäste an der feierlichen Eröffnung teil.
Ab Mittwoch für Besucher geöffnet
Das Zentrum sieht sich als Teil einer neuen Erinnerungslandschaft. In dem für 63 Millionen Euro sanierten Gebäude nahe dem Potsdamer Platz - dem 1935 fertiggestellten "Deutschlandhaus" - stehen für ständige Ausstellung, Wechselpräsentationen, Lesesaal und Forschungsbereiche mehr als 5000 Quadratmeter zur Verfügung.Die zweiteilige Dauerausstellung präsentiert im ersten Obergeschoss eine europäische Geschichte der Zwangsmigrationen anhand zahlreicher Beispiele aus dem 20. Jahrhundert. Im zweiten Obergeschoss geht es vertiefend um Flucht und Vertreibung der Deutschen vor und nach dem Zweiten Weltkrieg als Folge der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik. Erste Besucherinnen und Besucher der Ausstellung werden an diesem Mittwoch erwartet.
Dieses Thema im Programm:
Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 21. Juni 2021 um 17:00 Uhr.
https://www.tagesschau.de/


GEDENKEN AN DIE OPFER DES NATIONALSOZIALISMUS
Stolpersteine: Eine Verneigung vor den Verfolgten

In dieser Woche wird der Künstler Gunter Demnig Stolpersteine in einigen Berliner Bezirken verlegen. Über 70.000 dieser Steine erinnern heute an die Menschen, die von den Nationalsozialisten verfolgt und ermordet wurden.
Datum 07.05.2019
Autorin/Autor Oliver Pieper
Der erste Stolperstein ist eine Gedenktafel, Gunter Demnig verlegte sie am 16. Dezember 1992 in Köln. Vor dem Historischen Rathaus ließ der Künstler einen ersten mit einer Messingplatte versehenen und beschrifteten Stein in das Pflaster ein. Das Datum war bewusst gewählt: 50 Jahre zuvor hatte SS-Chef Heinrich Himmler die Deportation von "Zigeunern" in das Konzentrationslager Auschwitz befohlen. Auf dem Stein sind die Anfangszeilen des Erlasses zu lesen, im Hohlkörper der gesamte Text zur Verfolgung der Minderheit der Sinti und Roma.
Demnig, der sich damit in die Diskussion um das Bleiberecht der aus Jugoslawen geflohenen Roma beteiligen will, entwickelte daraus in den Folgejahren das Projekt der Stolpersteine. Drei Jahre später, am 4. Januar 1995, verlegte der Künstler ohne Genehmigung der Behörden die ersten Steine in Köln, im Mai 1996 weitere 51 Steine - ebenfalls illegal - in Berlin-Kreuzberg.
In Salzburg folgten am 19. Juli 1997 zwei Steine mit amtlicher Genehmigung, in Deutschland war es zuerst in Köln im Jahr 2000 soweit, dass auch die Behörden das Projekt unterstützen. Die Stolpersteine entwickeln sich in knapp 20 Jahren zum weltweit größten dezentralen Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus.
"Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist"
Auf den Betonquadern mit Messingtafel und einer Kantenlänge von zehn Zentimetern stehen seitdem Name, Adresse sowie Geburts- und Todesdatum und das Schicksal des jeweiligen Opfers. Die Steine werden in der Regel in den Gehweg vor dem letzten frei gewählten Wohnort von Verfolgten des Nationalsozialismus eingelassen.
NS-Gedenken l Künstler Gunter Demnig verlegt 70.000. Stolperstein
Die Stolpersteine sind das Lebenswerk des heute 71-jährigen Künstlers Gunter Demnig
Das Ziel des Projekts: Den NS-Opfern, die in Konzentrationslagern zu Nummern degradiert wurden, ihre Namen zurückzugeben und sie zurück an die Orte ihres Lebens zu bringen. "Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist", zitiert Gunter Demnig den jüdischen Talmud. Das Bücken der Passanten, um die Texte auf den Stolpersteinen zu lesen, soll außerdem eine symbolische Verbeugung vor den Opfern sein.
Erinnerung an alle Opfer des Nationalsozialismus
Die Stolpersteine erinnern nicht nur an Juden, Sinti und Roma, sondern auch an Menschen aus dem politischen oder religiös motivierten Widerstand, Homosexuelle, Zeugen Jehovas, Opfer der Euthanasie-Morde und an Menschen, die als vermeintlich "Asoziale" verfolgt wurden.
Entgegen der allgemeinen Annahme erinnern die Stolpersteine nicht nur an Ermordete sondern an alle Opfer des Nationalsozialismus. Also an die, die in Auschwitz und anderen Lagern ermordet wurden, aber auch an die, welche die Lager überlebten oder die entkamen, weil sie nach Palästina, in die USA oder andere Länder geflohen waren.
Stolpersteine in Berlin, Buenos Aires und Straßburg
Heute gibt es allein in der deutschen Hauptstadt 7000 Steine, und über 70.000 in 24 Ländern in Europa. 2017 fand eine Verlegung zum ersten Mal außerhalb Europas statt. Am Eingang der Pestalozzi-Schule in Buenos Aires wurde eine Stolperschwelle verlegt. Die 1934 gegründete deutsche Auslandsschule galt als Zufluchtsstätte für die Verfolgten des Nationalsozialismus.
Pestalozzi-Schule
Stolperschwelle außerhalb von Europa an der Pestalozzi-Schule in Buenos Aires
Als erste Großstadt in Frankreich verlegte Straßburg in der vergangenen Woche 20 Stolpersteine zum Gedenken an die Opfer der Nazis, die im Holocaust getötet wurden. Bis zum Herbst ist die Verlegung von weiteren 30 Steinen geplant.
Patenschaft für Stolpersteine kostet 120 Euro
Die Stolpersteine bleiben in all den Jahren ein Graswurzel-Projekt, an der Verwandte von Holocaust-Opfern, Freiwillige, Studenten und Schulkinder auf der ganzen Welt beteiligt sind. Letztere recherchieren zum Beispiel die Biografien von im Nationalsozialismus verfolgten Menschen.
Anfangs fertigt Demnig selbst, seit 2005 stellt der Berliner Bildhauer Michael Friedrichs-Friedländer jeden Stolperstein in seinem Atelier per Hand her. Dies soll den Gegensatz zur Anonymisierung und massenhaften Ermordung von Menschen in den Konzentrationslagern verdeutlichen. Finanziert werden die Stolpersteine durch private Spenden, für 120 Euro kann jeder eine Patenschaft für die Herstellung und Verlegung eines Stolpersteins übernehmen.
Das Projekt Stolpersteine hat auch Kritiker
Doch nicht alle sind mit dem Konzept der Stolpersteine einverstanden. Für Charlotte Knobloch, frühere Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, ist es "unerträglich", die Namen ermordeter Juden auf Tafeln zu lesen, die in den Boden eingelassen sind, auf denen mit Füßen "herumgetreten" werde. Ihre Nachfolger Dieter Graumann und der aktuelle Zentralratspräsident Josef Schuster unterstützen hingegen das Projekt.
Der erste Stolperstein Demnigs zur Erinnerung an die deportierten Sinti und Roma vor dem Kölner Rathaus ist übrigens nicht mehr das Original: 2010 wurde er von Unbekannten herausgebrochen und entwendet. Gunter Demnig verlegte ihn drei Jahre später, am 21. März 2013, neu.
https://www.dw.com/


Internationaler Suchdienst
Die Schatten der NS-Vergangenheit

Der Schrecken des Nationalsozialismus auf 50 Millionen Karteikarten - Der Internationale Suchdienst dokumentiert 17,5 Millionen Fälle von NS-Opfern und hilft dabei, Menschen wieder zusammen zu bringen.
19.05.2016, 00:00 Uhr
Die Schatten der NS-Vergangenheit
Blick ins Archiv: Mitarbeiter Udo Jost sucht in den Schubladen nach den Karteikarten.
© Alex Grimm / Reuters, REUTERS
Der Schrecken des Nationalsozialismus auf 50 Millionen Karteikarten - Der Internationale Suchdienst dokumentiert 17,5 Millionen Fälle von NS-Opfern und hilft dabei, Menschen wieder zusammen zu bringen - bis heute.
Es gibt den einen Augenblick, da steht jeder, der nach Bad Arolsen kommt, in diesem Raum mit den Regalen, die doppelt so hoch sind wie ein Mensch und bis unter die Decke reichen. Wenn man eine der Schubladen herauszieht, sieht man Karteikarten, nichts als Karteikarten. Auf manchen steht nur ein Name, vielleicht noch das Geburtsdatum. Aus anderen sind Lebenswege ablesbar – etwa in welchem Lager das Opfer war und vielleicht, in welchem Lager es starb. 50 Millionen Karteikarten haben sie in dieser Kleinstadt im Nordhessischen beim International Tracing Service (ITS), dem Internationalen Suchdienst. 50 Millionen Karteikarten über die Schicksale von 17,5 Millionen Opfern der nationalsozialistischen Herrschaft. Und manchmal führen diese Karteikarten mitten ins Leben.
So wie kürzlich. Da brachten sie Geschwister zueinander, die von der Existenz des jeweils anderen vorher gar nichts wussten: Ursula und Eli. 1947 kam der rumänische Jude Nathan in ein amerikanisches Camp nach Heidenheim in Baden-Württemberg. Dort verliebte er sich in Ruth, eine nichtjüdische Deutsche. Aus der Beziehung ging Tochter Ursula hervor. Im September 1948 emigrierte Nathan nach Israel, Ruth blieb in Deutschland. „Er war ihre große Liebe“, sagt Ursula. Nach dem Tod der Mutter begann die Tochter mit der Suche. Sie fand heraus, dass ihr Vater gestorben war. Doch stieß sie zugleich darauf, dass er einen Sohn aus einer folgenden Beziehung hatte, der noch lebt: Eli. Das war schön, sehr schön. Im vorigen September bekam Ursula aus Bad Arolsen die Telefonnummer ihres Halbbruders und rief ihn an. „Das war so ein Moment, den man nie vergisst“, sagt sie.
30 Familienzusammenführungen im Jahr 2015
Der Suchdienst, der in den letzten Kriegsjahren auf Initiative der Alliierten und des Roten Kreuzes entstand, kann Tausende solcher Geschichten erzählen. Allein 2015 fanden 30 Familienzusammenführungen statt. Doch es werden weniger. Und wenn der Dienst auf Dauer eine Existenzberechtigung haben soll, dann müssen sie sich in Bad Arolsen unter Leitung der seit Januar amtierenden Direktorin Floriane Hohenberg neu erfinden. „Der ITS ist weiterhin wichtig, weil immer noch vermisste Menschen gesucht werden“, sagt die 46-jährige, eine ebenso elegante wie polyglotte Französin. Zehn Mitarbeiter kümmern sich allein darum. „Außerdem wird er immer noch gebraucht von Menschen, die Rentenansprüche geltend machen wollen“, sagt Hohenberg, die vorher in Berlin und Warschau unter anderem für die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) gearbeitet und zuweilen Sehnsucht nach der Großstadt hat. Heute sei der Suchdienst nicht zuletzt für Forscher sehr wichtig, denn er habe „einen Bestand an Dokumenten, der absolut unvergleichlich“ sei, sagt sie.
Ja, in Bad Arolsen wollen sie ein wenig weg von den Ursprüngen. Der Neubau eines Archivgebäudes für sechs Millionen Euro ist bereits beschlossene Sache. Akademisches Personal soll die 260-köpfige Belegschaft auffrischen, die bisher vielfach aus einfachen Angestellten besteht, manche ohne Abitur. Akademiker in diese entlegene hessische Provinz zu locken, ist jedoch gar nicht so einfach. Sie wohnen lieber in den urbanen Zentren und ziehen ungern aufs Land, erst recht nicht für eine zeitlich befristete Stelle. Floriane Hohenberg möchte trotzdem einen Aufbruch organisieren. Er hat schon begonnen.
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Schicksal auf Papier: Unterlagen mit Details einer Verhaftung.
Foto: Uwe Zucchi, dpa
Als 1943 die Macht des nationalsozialistischen Deutschlands zu bröckeln begann, da gründeten die Alliierten und das Rote Kreuz ein zentrales Suchbüro – weit entfernt von Bad Arolsen, in London. Es begann mit der Recherche nach und der Registrierung von Verschollenen. Den Namen International Tracing Service bekam die Einrichtung am 1. Januar 1948. Dass die Standortwahl letztlich auf Bad Arolsen fiel, jene 16 000-Einwohner-Stadt nordwestlich von Kassel, lag daran, dass sie ziemlich in der Mitte der vier Besatzungszonen lag – damit aber auch in the Middle of Nowhere, wie man heute sagt. Was sich damals als Vorteil erwies, ist jetzt eher ein Nachteil. Die Wege nach Bad Arolsen sind meistens weit und kompliziert.
Zu den Akten aus dem Nationalsozialismus gesellten sich Dokumente aus der Nachkriegszeit. Es gibt Geburtsurkunden, Todesurkunden, Gerichts- und Krankenhausakten, Passagierlisten, Akten über Vermisste. „Die ganze Sammlung ist ziemlich heterogen“, sagt Floriane Hohenberg. Von den Unterlagen aus den Konzentrationslagern sind die aus Buchenwald und Dachau komplett erhalten. Bei den östlicher gelegenen Lagern sind die Informationen wesentlich dünner. Die komplette Sammlung wurde 2013 in das Unesco-Register „Memory of the World“ aufgenommen.
In den Anfangsjahren ging es neben den Informationen über Verschollene um Entschädigungen und Rentensprüche vor allem für Zwangsarbeiter. Die Anfragen reißen nicht ab: 2015 waren es mehr als 15 000 zu 20 000 Schicksalen. Gleichwohl lassen sie nach. Außerdem hat sich das Internationale Komitee vom Roten Kreuz 2012 aus der Leitung der Institution zurückgezogen. Seither bestimmt ein aus elf Nationen bestückter internationaler Ausschuss die Geschicke allein. Finanziert wird der Suchdienst aus dem Etat von Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU), da all das Unheil auf das Konto der Deutschen geht. Der Umbau des International Tracing Service ist seit einigen Jahren in vollem Gange. Bloß noch 30 bis 40 Prozent der Arbeit machten Suchanfragen aus, sagt Hohenberg. Die übrigen rund 60 Prozent betreffen Bildung und Forschung.
„Die Potenziale sind noch gar nicht richtig gehoben.“
Einer der für die Forschung Verantwortlichen ist Henning Borggräfe – ein Schlacks in Sneakers mit weißen Sohlen und auch sonst studentischer Erscheinung. Er hat über die Entschädigung von Zwangsarbeitern promoviert, kam 2014 nach Bad Arolsen und pendelt an den Wochenenden nach Essen ins Ruhrgebiet. In seinem großen und sehr hellen Büro in einem der Nebengebäude an der großen baumbestandenen Allee im Herzen der Kleinstadt sagt er: „Die Potenziale sind noch gar nicht richtig gehoben.“ Zwar sind schon 85 Prozent der Bestände digitalisiert. Die Erschließung war aber bisher auf Personen fixiert. Das bleibt wichtig. So kommt es zum Beispiel immer wieder mal vor, dass Initiativen, die Stolpersteine zu Ehren der Opfer verlegen wollen, auf Daten des Suchdienstes zurückgreifen. Überdies erteilt er unverändert Auskünfte, wenn NS-Täter vor Gericht gebracht werden sollen, wie dies bis in die jüngste Zeit hinein geschieht. So fand sich in den Archiven auch die Krankenakte von John Demjanjuk, der im Vernichtungslager Sobibor als Wachmann tätig war und 2011 wegen Beihilfe zum Massenmord verurteilt wurde. Längst sind umfangreiche Online-Recherchen möglich.
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Ausweis für Zwangsarbeiter: Arbeitsbücher helfen bei Entschädigungsanspruch.
Foto: Unwe Zucchi
Allerdings könne man anhand der Bestände nicht minder gut Untersuchungen über medizinische Experimente in Konzentrationslagern machen, sagt Borggräfe – oder über Wanderungsbewegungen von Opfern nach Kriegsende. Für Lokalhistoriker kann der Dienst genauso nützlich sein wie für Schüler vor einer Klassenfahrt zu einer nationalsozialistischen Gedenkstätte. Das setzt nur teilweise eine andere Art der Erschließung bestehender Akten voraus, als sie bisher stattfand. Eine thematische Erschließung eben. Borggräfe würde ohnehin gern „Verbindungen zur Gegenwart herstellen – ohne plumpe Analogien zu ziehen“. So haben sie in Bad Arolsen jede Menge Dokumente über Displaced Persons, Menschen, die nach 1945 zunächst ohne Bleibe waren, darunter Millionen Flüchtlinge. Und Millionen Flüchtlinge, die gibt es ja jetzt bekanntlich wieder. Ein Unterschied besteht darin, dass sie im digitalen Zeitalter weitaus seltener den Kontakt zueinander verlieren.
Das alles heißt wiederum nicht, dass der Suchdienst seinen ursprünglichen Zweck vollkommen eingebüßt hätte. Man spürt es, wenn der Leiter des Archivs, Christian Groth, eine der Schubladen mit den Effekten öffnet. Effekten sind persönliche Gegenstände, die einen maßgeblich ideellen Wert besitzen und in Bad Arolsen für gewöhnlich in einen Papierumschlag passen: Briefe, Fotos, Uhren, Ringe. Rund 3200 solche Umschläge haben sie. Gerade vorige Woche eilte eine Familie aus Schweden herbei, um einen von ihnen in Empfang zu nehmen.
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Ergebnis einer Recherche: Auf der Suche nach dem Schicksal seiner Mutter erhält ein Schwede den Ring, der ihr 1944 bei der Verhaftung abgenommen wurde.
Foto: Uwe Zucchi, dpa
Denkbar also, dass eines Tages auch noch jemand kommt, um die Effekten zu beanspruchen, die Groth jetzt in der Hand hält. Es handelt sich um die Habseligkeiten des Niederländers Johannes Wilhelmus Berens, der am 27. Januar 1924 geboren wurde und im KZ Neuengamme einsaß. Dabei fallen besonders die Fotos einer langhaarigen jungen Frau ins Auge. War es seine Schwester, seine Freundin, gar seine Ehefrau? Es erschließt sich auf den ersten Blick nicht. Auch sie dürfte längst tot sein. So wie Berens.
Die Erfahrung lehrt jedenfalls, dass Betroffene das Vergangene oft ein Leben lang verdrängen und erst an dessen Ende darauf zurückkommen – oder die Hinterbliebenen mit der Spurensuche beginnen, wenn die ältere Generation gestorben ist. Heute geht es überwiegend nicht mehr darum, Lebende zu finden, sondern die Lebenswege der Toten nachzuzeichnen. Die Fragen werden komplexer und damit die Recherchen. Auch diese Arbeit will in Bad Arolsen gemacht sein. So oder so gilt: Die Schatten der Geschichte sind lang.
Ursula und Eli, Tochter und Sohn von Nathan aus Rumänien, werden sich im Juni das erste Mal treffen. Und zwar in Heidenheim, dort wo die gemeinsame Familiengeschichte 1947 ihren Anfang nahm. „Meinen Bruder kennenzulernen, ist ein ganz großes Geschenk, mit dem ich nie gerechnet hätte“, sagt sie. Er sagt: „Mein Vater war ein sehr herzlicher, aber schwerkranker Mann. Er hat nicht über die Vergangenheit sprechen wollen.“ Die Vergangenheit blieb fast 70 Jahre lang im Dunkeln. Bis sie auch mit Hilfe derer in Bad Arolsen ans Licht kam.
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Dokument des Leidens: Häftlingskarte und andere Unterlagen eines Zwangsarbeiters.
Foto: A3295 Uwe Zucchi
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